Überlange Verfahrensdauer

BVerfG: 22 Jahre andauernder Schadensersatzprozess verletzt Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz

zu BVerfG, Beschluss vom 30.07.2009 - 1 BvR 2662/06
Das Bundesverfassungsgericht hat das Grundrecht auf einen effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG durch einen 22 Jahre andauernden Schadensersatzprozess als verletzt angesehen (Beschluss vom 30.07.2009, Az.: 1 BvR 2662/06). Die Fachgerichte seien verpflichtet, ein Gerichtsverfahren in angemessener Zeit abzuschließen. Dauere ein Verfahren außergewöhnlich lang, müsse das Gericht sämtliche Möglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung nutzen und sich gegebenenfalls auch um gerichtsinterne Entlastungsmaßnahmen bemühen. Die durch die Beschwerdeführerin selbst verursachten Verfahrensverzögerungen hätten die Verfahrensdauer nicht rechtfertigen können, so das BVerfG.
Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin war Eigentümerin mehrerer Grundstücke mit Kiesvorkommen. Diese wurden 1986 versteigert, nachdem das im Ausgangsverfahren beklagte Kreditinstitut seine Zusage, der Beschwerdeführerin zur Abwendung der Zwangsversteigerung einen Kredit zu gewähren, am Tag der Versteigerung zurückgezogen hatte. Im Jahr 1987 reichte die Beschwerdeführerin beim Landgericht Hamburg eine Klage auf Schadensersatz gegen das Kreditinstitut ein, weil sie der Meinung war, die Grundstücke seien weit unter Wert verschleudert worden. 1990 sprach das Oberlandesgericht in zweiter Instanz der Beschwerdeführerin den Schadensersatzanspruch dem Grunde nach zu Zweidritteln zu und verwies die Sache zur Entscheidung über die Höhe des Schadensersatzanspruchs an das Landgericht zurück. Eine Entscheidung im Betragsverfahren erging bis heute nicht.
Beschwerdeführerin rügt überlange Verfahrensdauer

Zunächst führte das Landgericht von Februar 1991 bis September 1993 das Verfahren auf Bitten der Beschwerdeführerin wegen schwebender Vergleichsverhandlungen nicht fort. Während des Betragsverfahrens wechselte die Beschwerdeführerin mehrfach den Prozessbevollmächtigten, änderte wiederholt ihre Klaganträge und stellte mehrere Prozesskostenhilfeanträge. Soweit ihre Prozesskostenhilfeanträge abgelehnt wurden, focht die Beschwerdeführerin die Entscheidungen des Landgerichts an. Überdies stellte sie verschiedene Befangenheitsanträge gegen die Richter der Zivilkammer und die vom Gericht beauftragten Sachverständigen. Im Jahr 1996 gab das Landgericht ein erstes Gutachten zur Feststellung des Verkehrswerts der versteigerten Grundstücke ohne Berücksichtigung der Kiesvorkommen in Auftrag. Im Jahr 2007 beauftragte das Landgericht einen anderen Sachverständigen mit der erneuten Bewertung der Grundstücke; diesmal unter Berücksichtigung der Kiesvorkommen. Nach Erstattung des Gutachtens Anfang 2008 lehnte die Beschwerdeführerin den Sachverständigen erfolgreich als befangen ab, woraufhin das Landgericht die Einholung eines Gutachtens durch einen neuen Sachverständigen anordnete. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wandte sich die Beschwerdeführerin gegen die überlange Dauer des Hauptsacheverfahrens und gegen die Zurückweisung eines ihrer Prozesskostenhilfeanträge. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Prozesskostenhilfeentscheidung wurde mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen. Im Übrigen war die Verfassungsbeschwerde erfolgreich.
BVerfG: Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt

Laut BVerfG verletzt die bisherige Dauer des Verfahrens die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sei es anerkannt, dass sich aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinn ableiten lasse. Daraus folge für Fachgerichte die Verpflichtung, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit abzuschließen. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens sei stets nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. Allgemeingültige Zeitvorgaben gebe es nicht. Verbindliche Richtlinien könnten auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht entnommen werden.
Keine Rechtfertigung der Verfahrenslänge durch Verzögerungen der Beschwerdeführerin

Im vorliegenden Fall ist dem BVerfG zufolge bei der Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Verfahrensdauer zu bedenken, dass die Bestimmung der Schadensersatzhöhe erhebliche Probleme aufwerfe, da die Bewertung von Kiesgrundstücken schwierig sei. Hinzu komme, dass angesichts der unübersichtlichen Rechtsverhältnisse unklar sei, welche Belastungen der Grundstücke im Zeitpunkt der Zwangsversteigerung bestanden hätten. Überdies sei zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin selbst erhebliche Verzögerungen verursacht hat, indem sie eine Vielzahl von Fristverlängerungsanträgen und vier Befangenheitsanträge gestellt, mehrfach den Anwalt gewechselt, wiederholt ihre Klageanträge geändert und die Nichtfortführung des Verfahrens zwischen 1991 und 1993 veranlasst habe. Trotz dieser Umstände nimmt das BVerfG aber aufgrund der außergewöhnlich langen Verfahrensdauer eine deutliche Überschreitung der Grenzen dessen an, was für einen Prozessbeteiligten unter dem Aspekt eines effektiven Rechtsschutzes noch hinnehmbar ist.
Vom LG zu verantwortende Verfahrensverzögerungen

Die Pflicht der Fachgerichte zur nachhaltigen Beschleunigung des Verfahrens werde dadurch verstärkt, dass die Beschwerdeführerin durch den Rechtsstreit erheblichen finanziellen Lasten ausgesetzt sei. Außerdem habe sie auch nach beinahe 19 Jahren noch keinen vollstreckbaren Titel erhalten, obwohl ihr Zweidrittel des Anspruchs dem Grunde nach zuerkannt worden seien. Zu justiziell zu verantwortenden Verfahrensverzögerungen sei es im Zusammenhang mit Wechseln in der Besetzung der entscheidenden Kammer gekommen, die eine zeitweise Untätigkeit des Landgerichts zur Folge gehabt hätten. Diese seien dem Staat jedenfalls insoweit zuzurechnen, als sie durch eine anderweitige Organisation hätten verhindert werden können. Dies gelte insbesondere für voraussehbare personelle Engpässe.
LG hätte sämtliche Möglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung nutzen müssen

Entscheidend für die Feststellung des Verfassungsverstoßes ist es nach den Ausführungen des BVerfG, dass sich das Landgericht angesichts der außergewöhnlich langen Verfahrensdauer nicht darauf hätte beschränken dürfen, das Verfahren wie einen gewöhnlichen, wenn auch komplizierten Rechtsstreit zu behandeln. Vielmehr hätte es unter Zugrundelegung seines rechtlichen Ausgangspunktes sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung nutzen müssen. Gegebenenfalls hätte es sich um gerichtsinterne Entlastungsmaßnahmen bemühen müssen. Es sei nicht ersichtlich, dass das Landgericht besondere Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens ergriffen hätte. Eine Beschleunigung sei hier jedenfalls nicht ausgeschlossen gewesen. Dies gelte insbesondere hinsichtlich der Beweisaufnahme. Bereits bei Einholung des ersten Gutachtens habe das Landgericht die Notwendigkeit eines weiteren Gutachtens zur Bewertung der Kiesvorkommen erkannt. Das Gericht hätte dieses jedenfalls unverzüglich nach Eingang des ersten Gutachtens, wenn nicht schon parallel in Auftrag geben müssen. Überdies hätte das Landgericht die Hauptsache während der schwebenden Beschwerdeverfahren über die Prozesskostenhilfeentscheidungen weiter betreiben können. Der organisatorische Aufwand für die Anfertigung eines Aktendoppels habe angesichts der Verfahrensdauer keinen Hinderungsgrund darstellen können.
Aufforderung zum raschen Verfahrensabschluss

Das BVerfG fordert das LG auf, jetzt unverzüglich geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Verfahren möglichst rasch abzuschließen. Wegen der Außergewöhnlichkeit der verfassungswidrigen bisherigen Gesamtdauer müsse hier auch das Präsidium des Landgerichts für Rahmenbedingungen sorgen, unter denen die Kammer das Verfahren bestmöglich fördern könne.

beck-aktuell-Redaktion, Verlag C. H. Beck, 7. August 2009.

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